Wenn die Reaktionen der französischen Presse einen auch nur näherungsweisen Einblick in den deutschen Wahlkampf gibt, so ist in den letzten Wochen nichts aber auch wirklich nichts passiert, was auf einen lebhaften Wahlkampf hindeuten könnte.
Damit wird der Kanzlerin in die Karten gespielt, die mit einem extrem personalisierten Wahlkampf: „Sie kennen mich und wissen, was sie an mir haben“ bei gleichzeitiger totaler thematischer Entkernung eine extrem passive Wahlkampfstrategie fährt. Konrad Adenauer plakatierte noch „Keine Experimente“ und sprach damit die Sicherheitsinstinkte der Deutschen direkt an. Im Grunde macht die Kanzelrin es nicht anders, sie präsentiert sich als „alternativlos“, als diejenige, die das Staatsschiff BRD sicher durch alle Krisen geführt hat, als diejenige, die nachdenkt, analysiert und dann erst entscheidet, als der ruhende Pol in einer immer aufgeregteren Welt.
Diese Strategie zielt darauf ab, einen kontroversen Wahlkampf mit entsprechenden mobilisierender Wirkung zu vermeiden. Dem politischen Gegner soll keine Angriffsfläche geboten und der Eindruck vermittelt werden, als gäbe es keine Alternative zur Amtsinhaberin. In der Politikwissenschaft wird dieses Verfahren als asymmetrische Demobilisierung bezeichnet. Die typischen SPD-Wähler sollen doch einfach zu Hause bleiben, weil es eh keinen Sinn macht, wählen zu gehen. 2009 hat dieses Verfahren hervorragend funktioniert und auch bis zum Wochenende schien es zu klappen: „Angela Merkel und die ihren hatten bis Sonntagabend 20.30 Uhr ihre Schäfchen weitgehend insTrockene gebracht.“, so schreibt die TAZ nach dem TV-Duell zwischen Kanzlerin und Herausforderer. Nach dem Duell sei nun alles anders, so die TAZ. Auch andernorts kann man diese Interpretation lesen, dass es Peer Steinbrück im Duell endlich gelungen sei, diese Strategie zu durchbrechen und Leben in den Wahlkampf zu bringen. Es fragt sich nur, ob im politischen Feuilleton nicht der Wunsch Vater des Gedankens ist und ob nun wirklich Leben in die Bude kommt.

Wenn man verschiedene Wahlkämpfe der letzten Jahrzehnte Revue passieren läßt, um sich Inspirationen zu holen, so stößt man unwillkürlich auf den Wahlkampf 1969, der sich als Vergleich anbietet. Damals kam die SPD aus einer großen Koalition und musste sich gegen den eigenen Regierungspartner profilieren. Indirekt haben wir eine ähnliche Situation, trägt die SPD doch die Europapolitik der Regierung in einer Art Vasallentreue mit und, nachdem die aktuelle Regierung in den letzten vier Jahren wenig Produktives geleistet hat, muss man als SPD mit einer umfassenden Kritik eher vorsichtig umgehen, war man doch bis 2009 selber an allen Entscheidungen der vergangenen 11 Jahre maßgeblich mitbeteiligt. Fast jede Kritik an der aktuellen Regierung kann denn auch ergänzt werden mit einem Hinweis darauf, dass die SPD doch irgendwie an der Entscheidung mit beteiligt gewesen sei. Kritik alleine also wird nicht genügen, um eine weitere Kanzlerschaft von Frau Merkel zu verhindern.

Harry Walter, Wahlkampfmanager Willy Brandts 1969 hat, in Bezug auf die aktuelle SPD im Mai 2013 folgende Kritik formuliert:
„Irritiert haben mich die Plakate auf dem SPD-Parteitag. Auf dem einen sah man ein Mädchen mit Arbeiterhelm und Pferdeschwanz, auf einem anderen war eine Hand abgebildet, die auf einer Tastatur liegt. Klassische Motive also, um sich mit Zielgruppen wie Arbeitern und jungen Frauen zu solidarisieren. Aber wo ist die Vision? Nur Zielgruppen abzubilden, reicht nicht. Was fehlt, ist eine Zukunftsvision, die allen Bürgern – auch den Älteren – klar vermittelt, was die SPD in Europa für uns Deutsche erreichen will.“
Albrecht Müller, Wahlkampfkoordinator des Brandt-Wahlkampfs 1972, hat diesen Gedanken an anderer Stelle aufgegriffen und - im Vergleich zum 72er-Wahlkampf – auf den Zusammenhang hingewiesen, dass es für die Mobilisierung der eigenen Wählerklientel unabdingbar ist, eine politische Alternative aufzuzeigen:
„Klar, die Welt ist eine andere. Es gibt heute keine Achtundsechziger-Bewegung, die zumindest die Politisierung großer Teile der Studenten erreicht hatte. Das Fernsehen ist kommerzialisiert. Es gibt fast keine kritischen Medien. Sehr viel mehr Menschen sind arbeitslos oder in prekären Arbeitsverhältnissen mit Minilöhnen. Junge Menschen haben auch nicht annähernd die gleiche Berufsperspektive und Auswahl an Jobangeboten, wie wir das als Dreißigjährige 1968 oder 1972 hatten. „Erst das Fressen, dann die Moral“. Erst der Beruf und der Job und dann das politische Interesse und noch viel später das politische Engagement. Das nagt heute an der Mobilisierungsfähigkeit der politischen Parteien. Alle etablierten Parteien haben Mitglieder verloren. Die SPD hatte 1972 mehr als eine Million Mitglieder. Heute sind es weniger als 500 000. Während des Wahlkampfs 1972 hatte sie alleine 155 992 neue Mitglieder und dabei die Hälfte unter dreißig Jahren hinzugewonnen. Schon diese Erfahrung spricht eher dafür, die Politisierung neu zu versuchen, als die Hände resigniert in den Schoß zu legen. Wir alle, unabhängig von unserer Parteipräferenz, werden bei der nächsten Wahl keine echte Alternative zu Angela Merkel und einer von ihr geführten Bundesregierung haben, wenn die SPD sich nicht auf die Notwendigkeit der Mobilisierung der Sympathisanten einer politischen Alternative besinnt.“
Hans-Jürgen Wischnewski hatte im Vorfeld der Wahl in einem Positionspapier (Wahlkampf 1969: Aufgaben und Chancen der SPD) den kommenden Wahlkampf versucht einzuordnen. Einzelne Passagen passen heute wieder:
„Aufgabe der SPD ist es jetzt, ihre offensive Position verstärkt zu nützen, die Versäumnisse und die Planlosigkeit insbesondere ihres Hauptgegners in diesem Wahlkampf der CDU/CSU klar hervorzuheben und den Wählern deutlich zu machen, daß die Unionsparteien keine Alternative anzubieten haben.“ (…) „Die große Mehrheit der Bürger unseres Landes ist bereit, sich für neue Wege in der Politik zu entscheiden, nur eine Minderheit vertraut weiterhin der konservativen Formel „Keine Experimente“.
Auch damals stand der SPD-Kanzlerkandidat einem populären CDU-Kanzler gegenüber, den die Wahlkampfstrategen nicht allzu direkt angehen wollten, um (falsche) Solidarisierungseffekte zu vermeiden.
Der oben erwähnte Harry Walter umging diese Falle,
„Indem ich einen Paradigmenwechsel vorgenommen habe: Ich habe nicht erzählt, wie schlecht die CDU ist, sondern was die SPD will. Stellvertretend dafür stand der Spruch „Wir schaffen das moderne Deutschland“. Brandt fand das auf Anhieb gut. Alle potenziellen Minister mussten konkrete Vorschläge machen, was das moderne Deutschland für sie bedeutet. So ist schließlich aus dem Slogan ein Regierungsprogramm geworden.“
Auf dieser Basis führte Willy Brandt seine SPD an die Schalthebel der Macht und fasste in seiner Regierungserklärung vom 28.Oktober 1969 den Aspekt der politischen Alternative in den Begriff des „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“
„Seit Sonntag ist wieder Musik in dieser eigentlich abgehakten Geschichte namens Wahlkampf. Merkel wird kein einfach nur akklamiertes Votum erhalten. Wenn die SPD und die Grünen jetzt nicht nur vor sich hinmeckern, sondern kämpfen, auch wenn das richtig anstrengt, ist selbstverständlich ein Wechsel möglich.Fallen sie wieder in den Modus der Desinteressiertheit, diffamieren sie die Millionen vor den Fernsehern, die offenbar einem wie Steinbrück eine Chance geben wollen. Es ist mehr politische Wachheit im Publikum, als die Opposition selbst anzunehmen bereit war.Ob sIe dieses Kapital nutzt, entscheiden sie allein.“
So macht sich die TAZ und dem rotgrünen Lager nach dem TV-Duell Mut.
Entscheidend wird nun aber sein, dass es der SPD (und den Grünen) gelingt, zu zeigen, dass mit dem rot-grünen Bündnis eine politische Alternative zur aktuellen Regierung verbunden ist. Und hier ist die ganze SPD gefordert. Peer Steinbrück hat eine Vergangenheit, die ihn angreifbar macht. Er stützte die Agenda 2010 und er war Finanzminister in der großen Koalition, d.h.: er war mitverantwortlich für den von vielen so empfundenen sozialpolitischen Supergau der Hartz-IV-Reformen und er hat die Rettung des Euro und damit die wirtschaftspolitische Solidarität (nicht unbedingt die soziale) im vereinigten Europa über jede populisitsche Kritik an der Regierung gestellt. In beiden Bereichen wurde und wird gerne damit argumentiert, dass alle getroffenen Entscheidungen alternativlos (gewesen) seien. Dem ist natürlich nicht so. Das aktuelle Wahlprogramm der SPD zeigt es ja überdeutlich, wenn „Fehlentwicklungen“ in Folge der Agenda 2010 - Gesetzgebung jetzt korrigiert werden sollen. Auch die Positionierung der SPD in der Eurokrise folgt diesem Muster: es geht auch anders, sagte Peer Steinbrück im TV-Duell.
Ein Peer alleine wird es aber nicht retten. Will die SPD wirklich regieren, dann muss sie in den kommenden drei Wochen auf jedem Marktplatz dieser Republik das Andere, das Neue der eigenen Politik zeigen. Der von der CDU erhofften asymmetrischen Demobilisierung muss ein besonderer Mobilisierungselan entgegengestellt werden. Das kann aber nur erreicht werden, wenn es Rot-Grün gelingt, zu zeigen, was anders und besser gemacht werden soll. Mit Leidenschaft und mit Wagmut, denn: politische Langeweile hatten wir die letzten Jahre genug.