Dienstag, 8. Mai 2012
Thema: Piraten
"Liquid Democracy" als Mischform von direkter und repräsentative Demokratie? Einige Überlegungen
„Unter "Liquid Democracy" versteht man eine Mischform zwischen indirekter und direkter Demokratie. Während bei indirekter Demokratie ein Delegierter zur Vertretung der eigenen Interessen bestimmt wird und bei direkter Demokratie alle Interessen selbst wahrgenommen werden müssen, ergibt sich bei Liquid Democracy ein fließender Übergang zwischen direkter und indirekter Demokratie.
Jeder Teilnehmer kann selbst entscheiden, wie weit er seine eigenen Interessen wahrnehmen will, oder wie weit er von Anderen vertreten werden möchte. Insbesondere kann der Delegat jederzeit sein dem Delegierten übertragenes Stimmrecht zurückfordern, und muss hierzu nicht bis zu einer neuen Wahlperiode warten. Es ergibt sich somit ein ständig im Fluss befindliches Netzwerk von Delegationen.“
(Aus: Piratenwiki: Artikel Liquid Democracy)

Das Modell „Liquid Democracy“ zielt darauf, dass die poltisch interessierte BürgerIn sich zu jeder anstehenden Sachfrage entscheidet:

a.) er/sie nimmt an der Entscheidung nicht teil,
b.) er/sie delegiert die Entscheidung an einen Dritten,
c.) er/sie nimmt an der Entscheidung selber teil.

Das Modell erklärt, dass die Delegierung der Stimme jederzeit wieder zurückgezogen werden kann.

Das erste Problem, das sich daraus ergibt, ist der Tatsache geschuldet, dass wir in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft leben und so wie keineR mehr in der Lage ist, alle seine/ihre Bedürfnisse durch der eigenen Hände Arbeit zu befriedigen, so will und kann nicht jedeR bei allen Themen beteiligt werden. Für das Modell der „Liquid Democracy“ gar kein Problem, die Betreffenden nehmen an der Auseinandersetzung nicht teil und bleiben der Debatte und Abstimmung fern bzw. übertragen ihre Rechte auf einen Dritten.
Im Grunde legt das Modell hier bereits die Grundlagen für eine Diktatur der „Wissenden“, denn das Modell bietet sich gerade zu dafür an, dass Spezialisten (echte oder selbsternannte) das ihnen wichtige Thema monopolisieren und mittels Delegation Stimmmehrheiten für ihre Lösung kumulieren. Je abstrakter ein Thema, desto sicherer auch, dass formale Transparenz nicht ausreicht, um solche antidemokratischen Effekte zu vermeiden. Je komplexer ein Thema, je detaillierter und kleinteiliger die zu entscheidenden Maßnahmen, desto weniger Menschen werden sich an solchen Themen beteiligen. „Liquid Democracy“ legt eben nicht den Grundstein zu einer höheren Transparenz und Mitsprache, sondern schafft eine Basis für eine Diktatur der TechnokratInnen. Insbesondere der Wunsch, auch bei solchen Verfahren ein Höchstmaß an Anonymität zu ermöglichen ist die Hintertür zum zukünftigen Missbrauch des Verfahrens. Erinnert sei dabei an die Probleme des Mediums „Wikipedia“, beim dem durch eine anonymisierte Mitarbeit Artikel von Lobbyisten zugunsten von Firmen und Personen verändert wurden und werden. Zwischenzeitlich beherrschen notwendigerweise Wikipediaaufpasser das Feld und entscheiden darüber, welche Texte, welche Interpretation, ja welche Wahrheit in „Wikipedia“ veröffentlicht werden darf. Das ist in der Welt eines Lexikons womöglich angemessen, aber es zeigt bereits auf, wie anfällig dieses Formen der anonymisierten netzbasierten politischen Teilhabe sind.

Zusätzlich ist strukturell erkennbar, welch elitäres Politik- und damit Menschenmodell hier vorherrscht. Die Teilhabe am Piratenmodell erfordert ein hohes Maß an freier verfügbarer Zeit – allein dies wird innerhalb kurzer Zeit zu einer Form der verdeckten Professionalisierung und Majorisierung der Basis führen.
Der hohe Zeitbedarf grenzt aber auch alle aus, die in ihrem alltäglichen Leben aufgrund vorhandener Mehrfachbelastungen über diese Zeitreserven nicht verfügen. Insbesondere Frauen mit Kindern werden strukturell ausgegrenzt, da die internetbasierte Debattenkultur eine Schnelligkeit entwickelt hat, die jeden und jede überfordert, die eben nicht kontinuierlich am Prozess teilnehmen kann.
Die Teilhabe via Technologie grenzt aber auch all diejenigen aus, die entweder über die technischen Möglichkeiten nicht verfügen bzw. Schwierigkeiten mit ihrer Beherrschung haben.
Es grenzt all diejenigen aus, die sich am schriftlichen Diskurs nicht beteiligen können, da sie der deutschen Schriftsprache bspw. nur unzureichend mächtig sind.

Das Modell ist ein in sich Elitäres, da Zeit, technisches Knowhow und sprachliche Fähigkeiten in einem Umfang zur Grundlage der Teilhabe gemacht werden, über den Teile der heisigen Gesellschaft eben nicht verfügen.

Im Grund werden hier die Schwächen der direkten Demokratie mit den Problemen eines technischen Mediums verknüpft. Die technikaffinen Piraten jedoch suchen in erster Linie Lösungen für technische Probleme ohne zu erkennen, dass ihr Modell demokratietheoretische Defizite aufweist, die zu klären sind, bevor man sich der Technologie zuwendet.




Mittwoch, 2. Mai 2012
Thema: Piraten
Er war ja schon immer einer dem ich gerne zugehört habe, nicht nur weil er aus Baden-Württemberg kommt, sondern auch weil er ein kluger Kopf ist.
Insofern freut mich, dass er eine fundierte Meinung zu den Piraten hat:
Die Grünen packten einst eine Jahrhundertaufgabe an
so formuliert Ehrhard Eppler und fährt fort:
Warum schätze ich die Piraten ganz anders ein? Weil der Anlass zu ihrer Gründung keine politische Jahrhundertaufgabe war. Am Anfang standen ein paar simple Fragen des Rechts, auch des Verfassungsrechts, die gar nicht von der Politik, sondern von der Justiz zu entscheiden sind.
Das erinnert an den norwegischen Soziologen Stein Rokkan, der im Rahmen seiner „Cleavage-Theorie“ die Entstehung des europäischen Parteiensystems entlang gesellschaftlicher Konfliktlinien beschreibt, wobei sich in den Konflikten grundsätzliche Interessen- oder Wertkonflikte verschiedener organisierter sozialer Gruppen widerspiegeln. Einer der zentralen Grundkonflikte der parteibildend wirkte, war der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Die SPD ist Frucht dieses Grundkonflikts.
Derart beschreibt Ehrhard Eppler auch die Entstehung der Grünen in den späten 70er Jahren entlang des Grundkonflikts „Nachhaltigkeit“, einer „Jahrundertaufgabe“, die, so Ehrhard Eppler, bei einer großen Partei wie der SPD besser aufgehoben gewesen wäre. War das Thema aber nicht. Daher war die Gründung der grünen Partei langfristig eine Erfolgsgeschichte.
Die Piratenpartei referiert jedoch eben nicht auf einen solchen Grundkonflikt. In den Worten Ehrhard Epplers:
Insofern verdanken wir die Gründung dieser Partei einem Missverständnis.