Dienstag, 2. August 2011
Thema: Opposition
Die TAZ veröffentlicht heute (02.08.2011) den Text des italienischen Historikers Piero Bevilacqua, der ausgehend vom Ende der großen metaphysischen Erzählungen der Neuzeit (Aufklärung, Idealismus, Marxismus) konstatiert, dass in den großen Umbrüchen des 20 Jahrhunderts auch die Erzählung des Fortschritts zu Schaden gekommen ist. In Form der Form des Begriffs Entwicklung lebt sie aber fort und ist in dieser Form Grundlage jeder modernen Politik. Die Parteien der Linken haben den Entwicklungsbegriff verinnerlicht und um die soziale Komponente erweitert.
Bevilacqua beschreibt das Aufkommen des Neoliberalismus vor 30 Jahren als „breit gefächerte kapitalistische Gegenoffensive“ in der der Fortschritt als die Freiheit des Individuums vor jeder Bevormundung erscheint und der freie Markt als einzige Regelungsinstanz übrig bleibt.
Dieser „Heiligenlegende“ konnten sich auch die Linken nicht entziehen.
„Auch die traditionellen Parteien der Linken konnten sich ihr nicht entziehen. Liberalisierung, Privatisierung, Wettbewerb, Flexibilität befielen die gute, alte Sozialdemokratie wie Parasiten und saugten sie aus.“

Im Begriff des „neuen Fortschritts“ der deutschen Sozialdemokratie des Jahre 2011 finden sich von all diesen Erzählungen etwas wieder. Noch scheint die SPD sich davon nicht trennen zu wollen, obwohl auch ein um Lebensqualität angereicherter Fortschrittsbegriff die Befindlichkeit vieler Menschen nicht mehr trifft.

Ausgehend vom Begriff der Enteignung stellt sich doch die Frage, ob der ganze herkömmliche Fortschritt aus Sicht des Einzelnen zwischenzeitlich nicht als zweischneidig erwiesen hat. Einerseits sorgten Fortschritt und Entwicklung für einen Zugewinn an Lebensqualität und an existentieller Sicherheit, andererseits erweist sich der neoliberale Fortschritt als Mittel zur Enteignung. Man spricht von der Privatisierungen, von Entlastungen, man redet von der Kapitaldeckung irgendwelcher sozialer Systeme, die andernfalls nicht überlebensfähig seien und im Endeffekt, was steht am Ende des Prozesses: einige Gewinner und viele Verlierer, für die Privatisierungen und Entlastungen zu einer Zunahme der Lebensrisiken führt, die nicht mehr durch die Gesellschaft aufgefangen werden.
Auf kommunaler Ebene handelt dies Geschichte beispielsweise von der Privatisierung der Müllabfuhr oder dem Verkauf der städtischen Stromversorgung an einen der Big Player. So verschieden die Kommunen, so verschieden die jeweils gewählten Wege. Schlussendlich aber hat dieser dem Neoliberalismus geschuldete Privatisierungswahn fast nie zum gewünschten Ergebnis geführt, es verbesserten sich weder Qualität noch Preis.

Zwischenzeitlich hat der Wind gedreht, in Form einer Graswurzelrevolution hat sich die Idee des Gemeineigentums in den Köpfen der Menschen eingenistet. Mal fordern Bürger einer Gemeinde die Übernahme des Stromnetzes, mal wird die Privatisierung der Müllabfuhr rückgängig gemacht. Die Produktion von Strom im Stadtteil oder der Gemeinde, die Wiederbegründung technischer Werke, mal geht es darum, eine Wiese vor der Bebauung zu retten, mal darum den städtischen Wohnungsbestand nicht an einen privaten Investor zu veräußern – es wirkt nicht wie eine große kollektive Empörung und doch beobachten wir hierin eine Wiederbelebung der Idee des Gemeineigentums.


Und das Gemeineigentum ist ein ausbaufähiges Konzept, denn im Grunde handelt es sich um die Wiederaneignung von Gemeingütern, die der Neoliberalismus der privaten Vernutzung anheim gestellt hat.

Wie schreibt Piero Bevilacqua:
„Im Grunde ist die Wiederaneignung der Gemeingüter einfach Ausdruck der Sehnsucht der Individuen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederzufinden, der sie aus ihrer Isolation erlöst - ohne ihnen dabei ihre Freiheit zu nehmen. Es ist die politische Erzählung, die den Menschen vor der Angst der Moderne beschützen und ihnen eine Geschichte aufzeigen kann, die Sinn hat und die das Unbehagen an der Gegenwart kritisch beleuchtet. Sie bringt unterschiedliche Interessen zusammen und ermöglicht die Partizipation aller sozialer Schichten - eine Perspektive, die in den letzten Jahren bei allen völlig aus dem Blickfeld geraten ist.
Zuletzt: Diese neue Erzählung stellt sich in offenen Gegensatz zum Grundwiderspruch des Kapitalismus. Der gemeinschaftlich produzierte Reichtum fließt immer in die engen Bahnen der privaten Aneignung. Heute geht es dabei aber nicht mehr nur mehr um die Anhäufung bestimmter Güter; heute geht es um die ganze Erde, das gemeinsame Haus der Menschen, das von der Zerstörung durch den Plünderungszug der Privatinteressen bedroht ist. Und deswegen müssten potenziell alle die Erzählung von den Gemeingütern als die ihre verstehen und annehmen können, jenseits politischer, sozialer, kultureller und religiöser Grenzen.“

http://www.taz.de/Debatte-Neoliberalismus/!75505/