Montag, 8. Juli 2013
Thema: Inklusion
Die Landesregierung hat einen Entwurf für die Mindestgröße von Förderschulen vorgelegt, durch die eine große Anzahl von Förderschulen in ihrem Bestand gefährdet sind. Sie sind einfach zu klein. Wie beispielsweise die Frechener Anne-Frank-Förderschule.
Darüber wurde an dieser Stelle bereits zweimal geschrieben.

Manchmal jedoch lohnt es sich, die Argumentationsmuster zu durchleuchten, die genutzt werden, um die eigene politische Position zu begründen. Insbesondere bei einem Thema wie der Inklusion, die vor noch nicht einmal drei Jahren für viele undenkbar gewesen ist und heute scheint niemand mehr seine Stimme dagegen erheben zu wollen. Vom Saulus zum Paulus, oder doch nur eine Modernisierung des argumentativen Waffenarsenals?
Die Gegner, so scheint es, operieren nun zumindest verbal auf einer anderen Grundlage.

Bis zum ersten Wahlsieg von Rot-Grün in NRW gab es eine zwingende Schulempfehlung und wurde bei einem Kind ein „Defizit“ festgestellt, so wurde dieses Kind – auch gegen den Willen von Eltern und Kind – einer Förderschule zugewiesen.
Dieses Verfahren, das jede Wahlfreiheit mit Füssen trat, war Grundlage für die in NRW blühende Förderschullandschaft. Jedes Wehwechen bekam, so hatte man den Eindruck, einen eigenen Förderschulzweig, die dank des Fehlens jeder Wahlfreiheit blühten und gedeihten, da ja der Schülernachschub qua Amt zugewiesen wurde. Dagegen haben weder die Konservativen noch die den Idealen der Freiheit verpflichteten Liberalen je protestiert.

Und dann kam die Inklusion vielleicht auch nur Frau Löhrmann und man registriert mit Staunen, wie sich eben die Konservativen und Liberale zu den Verteidiger des Förderschulwesens aufschwingen und nach passenden Argumenten suchen.

Das neue Schlagwort lautet: Wahlfreiheit. Wahlfreiheit meint die freie Wahl für die Eltern zwischen Förder- und Regelschulen, also etwas, was bis 2010 von der schwarz-gelben Koalition nicht einmal in Erwägung gezogen worden ist.
Man würde den neuen Freunden der Wahlfreiheit also gerne glauben, nur man kann es nicht, denn die fehlende Wahlfreiheit war und ist Grundlage des existierenden Förderschulsystems. Es ist kaum vorstellbar, dass fast 100.000 Kinder in Nordrhein-Westfalen freiwillig Förderschulen besuchten, wenn sie denn in den letzten 10 Jahren schon die Möglichkeit gehabt hätten, auf eine Regelschule zu gehen.

Heute reden sie also von Wahlfreiheit und wollen doch nur das deutsche Trennschulsystem behalten.
Wie der Landesrechnungshof erst vor kurzem festgestellt hat: ist ein Kind erst einmal im Förderschulsystem angekommen, dann kommt es da nie wieder raus. Aus diesem Teufelskreis entkommt man nur dadurch, dass die Profiteure des Systems, die Förderschulen, geschlossen werden.
Ebenso falsch klingt es vor diesem Hintergrund, wenn die Verteidiger der schulischen Segregation davon reden, dass Förderschulen in einer zumutbaren Entfernung vorhanden sein müssten.
Vielmehr ist es ja so, dass jedes Wehwechen seinen eigenen Förderschulzweig bekommen hat, mit der Folge, dass sich die Förderschulen spezialisiert haben. Weite Wege zur je spezialisierten Förderschule sind nun systemimmanent.
Die drohende Schließung der Förderschulen trifft denn auch vorzugsweise die Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, also die Restesammler im hochspezialisierten Förderschulssystem. (Bei der Tour de France spricht man vom Besenwagen, der die Abgehängten einsammelt und ins Ziel bringt. Für diese Fahrer endet die Tour im Besenwagen. Aussortiert.)
227 dieser Schulen sind zu klein, um selbständig exisitieren zu können. Der Verband der Lehrer NRW meint darin eine „doppelte Katastrophe“ zu erkennen, denn ein hervorragendes Förderschulsystem werde zugunsten einer Inklusion in den Regelschulen geopfert, für die kein Konzept bereitstehe. Andere sehen „die Zukunft eines flächendeckenden Angebots an Förderschulen aufs Spiel" gesetzt (CDU NRW) oder erklären, dass „mit den neuen Regelungen über die Schulgröße zwangsweise viele Förderschulen auf kaltem Weg geschlossen (werden)." (Verband Bildung und Erziehung).
Hier kullern nur Krokodilstränen, denn allen Beteiligten sollte klar geworden sein, dass sich kein Bundesland leisten kann, Ressourcen für förderbedürftige Kinder in zwei Schulsystemen zur Verfügung zu stellen, an der Regelschule und im Förderschulsystem. Da fehlen die finanziellen Mittel, da fehlen die Fachkräfte.
Wer Inklusion will, der muss sich hinter die Idee der Schließung von Förderschulen stellen. Die Regelschulen brauchen die dort arbeitenden Lehrer und Lehrerinnen, brauchen deren Knowhow und deren Bereitschaft, an der Schaffung eines inklusiven Schulssystems mitzuarbeiten. Noch mehr brauchen es die förderbedürftigen Kinder und deren Eltern, die ihre Kinder an einer Regelschule unterrichtet sehen wollen.
Dafür braucht es klare politische Vorgaben.
Die Ansage, dass eine Vielzahl von Förderschulen auslaufen wird, ist genau eine solche. Wer dagegen glaubt, er könne von Inklusion reden und gleichzeitig die Förderschulen am Leben erhalten, der lügt sich aber auch allen anderen in die Tasche.
Die Mehrzahl der Förderschulen hat keine Zukunft mehr.
Wir dürfen gespannt sein, wie der kommunale Schulträger das Problem lösen wird.